Regionen
Deutschland
Wir wissen, dass Johann Liss aus dem Norden Deutschlands, genauer aus Holstein, stammt. Um uns nun die Situation, in der er dort um 1600 aufgewachsen ist, besser vorstellen zu können, muss zunächst der historische Kontext im Deutschland jener Zeit geklärt werden.
Geschichtliche Einordnung
Da jeder Künstler eng mit den geschichtlichen Ereignissen seines Heimatlandes verbunden ist, ist es nötig, zunächst einmal einen Blick auf die Geschehnisse zu werfen, die sich zur Zeit der Geburt und während des Lebens von Johann Liss in den deutschsprachigen Ländern abspielten, auch wenn sie seine Künstlerkarriere oft nur aus der Ferne berührten.
Wenn man im Zusammenhang mit Johann Liss von Deutschland spricht, so bezeichnet man damit konkret das Heilige Römische Reich Deutscher Nation unter der Herrschaft Römisch-Deutscher Kaiser. Dieses Reich existierte vom Ende des 15. Jahrhunderts bis 1806 und überwölbte eine riesige Anzahl von Kleinstaaten, regionale Fürsten- und Herzogtümer, die den Kaiser offiziell anerkannten und den Reichsgesetzen und der Gerichtbarkeit unterworfen waren. Reichszugehörig waren außer dem heutigen Deutschland auch umliegende Gebiete wie, um nur einige zu nennen, das Erzherzogtum Österreich, die Freigrafschaft Burgund, das Elsass, das Herzogtum Lothringen, Pommern und das Kurfürstentum Brandenburg.³ Die Bewohner des jeweiligen Territoriums unterstanden jedoch nicht direkt dem Kaiser, sondern dem Landesherrn.
Dies wurde mit dem Beginn der Reformation und den daraus resultierenden Differenzen in Glaubensfragen zum Problem, als sich der neue Glauben in verschiedenen Territorien ausbreitete. Nach jahrzehntelangen Unruhen und Kriegen wurde 1555 schließlich der Augsburger Religionsfriede ausgerufen, wodurch der Grundstein für eine friedliche Koexistenz von Luthertum und Katholizismus gelegt wurde und durch den die Landesherren das Recht bekamen, die Konfession ihrer Untertanen zu bestimmen.⁴ Einer relativ stabilen Friedensphase folgten in den 1580er Jahren neue Unruhen aufgrund von Spannungen zwischen den Religionen. 1608 wurde die Protestantische Union gegründet und als Reaktion darauf 1609 die Katholische Liga.
1618 löste der Prager Fenstersturz schließlich den Dreißigjährigen Krieg zwischen dem Kaiser mit der Katholischen Liga gegen die Protestantische Union aus. In der Folge kämpften die Habsburgischen Mächte Österreich und Spanien mit ihren Verbündeten gegen Dänemark, Schweden, die Niederlande und Frankreich. Die Kämpfe fanden vorwiegend auf dem Territorium des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation statt. Gewalt, Hunger und der Ausbruch der Pest prägten die kommenden dreißig Jahre.⁵
Karte des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1618 am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges
Zum Begriff „deutsch“
Der Begriff „deutsch“ wird im Zusammenhang mit der Epoche des 16. und 17. Jahrhunderts in der Regel zur geographischen Einordnung der Abstammungsregion eines Künstlers verwendet. Im Mittelalter wurden Begriffe wie regnum Teutonicum ausschließlich von ausländischen Herrschern oder Päpsten gebraucht, um so den Kaiser regional in seinem Machtbereich einzugrenzen. Um 1500 beeinflusste die Wiederentdeckung von Tacitus Werk Germania Humanisten, die sich infolgedessen mit dem Begriff „deutsch“ beschäftigten.⁶
Wenn in der Forschung der Begriff „deutsch“ synonym mit einem Bewohner des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation benutzt wird, so kann man zu Recht die Frage stellen, ob ein Künstler der damaligen Zeit, der aufgrund der zahlreichen heterogenen Kleinstaaten nicht im Bewusstsein einer überregionalen kulturellen Identität leben konnte, sich selbst als „deutsch“ bezeichnet hätte.⁷ Der Begriff Deutscher Nation entspricht eher „dem Selbstverständnis der Bewohner des Alten Reiches als Sprachgemeinschaft“.⁸ Auch Joachim von Sandrart benutzte den Begriff teutsch und fasste in seiner Teutschen Akademie Künstler zusammen, deren Herkunft in einer deutschsprachigen Region zu verankern war. Entscheidend sind dann aber die spezifischen Angaben, wie im Fall von Johann Liss: von Oldenburg.⁹
Kunstszene
Die bilderfeindlichen Strömungen der Reformationszeit und die unterschiedlichen Herrschaftsverhältnisse in den unzähligen Kleinstaaten trugen dazu bei, dass phasenweise kein kontinuierliches Kunstschaffen im Reich möglich war. Erschwerend kam auch der Aspekt der Religionszugehörigkeit hinzu. Religionsfreiheit war selten gegeben, meist zwangen die Landesherren die Bevölkerung, ihren Glauben anzunehmen. Für Künstler konnte dies im Zusammenhang mit der Erteilung von Aufträgen eine große Rolle spielen.¹⁶ Im katholischen Süddeutschland waren beispielsweise Altargemälde gefragt wie noch nie zuvor.¹⁷
Während des Dreißigjährigen Krieges verschärfte sich die Situation erneut für die Künstler. Joachim von Sandrart beschrieb in seiner Teutschen Akademie die Lage der Kunstschaffenden während des Krieges: „In Teutschland/ ward dieses Kunst-Liecht durch Martis Pulverdampf verdunklet“,¹⁸ sowie „[a]lso geriethe solche [die Kunst] in vergessenheit/ und die jenige/ so hiervon Beruff macheten/ in Armut und Verachtung: daher sie das Pollet fallen ließen/ und an statt des Pinsels/ den Spiß oder Bettelstab ergreiffen musten/ auch vornehme Personen sich schämeten/ ihre Kinder zu so verachteten Leuten in die Lehre zu schicken.“¹⁹
In den Kriegsgebieten wurden fürstliche Sammlungen geplündert, Künstler wie Joachim von Sandrart mussten ihre Heimat verlassen oder Kriegsdienst leisten. Dennoch waren die Auswirkungen auf das Kunstschaffen durch den Dreißigjährigen Krieg eher indirekt, da der Schauplatz des Krieges nach und nach in regional begrenzte Einzelkämpfe zerfiel. So konnte sich in den unbetroffenen Gebieten das normale Leben erneuern. Die angespannte Lage äußerte sich insofern auf das Kunstschaffen, dass es nicht überall und in jedem Bereich möglich war und auch ein Mäzenatentum fehlte.²⁰
Zum einen entstanden in dieser Zeit Werke, die den Krieg und die Sehnsucht nach Frieden thematisierten. Kriegsschrecken, Alltagsszenen in der Kriegszeit, Allegorien von Krieg und Frieden wurden malerisch dargestellt. Diese sind trotz ihrer erschreckend realistischen Details jedoch auch komponierte Inszenierungen, vergleichbar mit dem zeitgenössischen Kriegstheater.²¹ Zum anderen entwickelte sich beispielsweise in Augsburg die Goldschmiedekunst und Luxusmöbelherstellung, bei der auch Maler beteiligt waren, zur Blüte.²² Die Künstler waren dabei sehr mobil: deutsche Künstler reisten ihren Aufträgen hinterher in andere deutsche Regionen oder ins Ausland (und unterschieden sich dabei von den Wandergesellen der Zünfte),²³ während aus anderen Ländern Glaubensflüchtlinge nach Deutschland einreisten. Somit entstanden immer neue Impulse für die Kunst. Dies erschwert auch die Definition „deutscher Kunst“. Viele Künstler gingen wie Johann Liss für einen langen Zeitraum ins Ausland, auch Hans Rottenhammer (1564/65-1625) oder Johann Heinrich Schönfeld (1609-1684) hielten sich über ein Jahrzehnt in Italien auf. Andere Künstler wie Johannes Lingelbach (1622-1674) verließen Deutschland ganz, dieser zog von Frankfurt a.M. nach Rom und Neapel und ließ sich dann endgültig in Amsterdam nieder.
Schwierig ist auch die Einordnung von Künstlern, die umgekehrt nach Deutschland einreisten. Beispielsweise lebten und arbeiteten zahlreiche niederländische Künstler, geprägt von ihrem Herkunftsland, dauerhaft in Deutschland, wie in der Frankenthaler Künstlerkolonie. Stilistische Herkunfts-Einordnungen sind daher schwierig. Wichtiger als der Begriff des Regionalstils war die Prägung durch Schulen und Werkstätten und Einflüsse aufgrund von tatsächlich bei Auslandsaufenthalten o.ä. gesehenen Werken oder von kursierenden Druckgrafiken.²⁴
Die wandernden Künstler boten auf diesen Reisen auch ihre mitgebrachten Gemälde an. Die Werke entstanden nun also nicht mehr nur als Auftragskunst. Ort und Zeit für den Verkauf wurden von der jeweiligen Obrigkeit geregelt, beispielsweise auf Märkten oder Messen. Mit diesen auf der Wanderung mitgeführten Gemälden änderte sich das Format der Kunstwerke, es entstanden kleinformatige Kabinettbilder. Das Gemälde löste sich damit zunehmend von der Architektur und wurde zu einer selbstständigen Einheit.²⁵ Beispiele dafür sind Stillleben, welche meist ohne Auftrag angefertigt wurden, oder auch die „Feinmalerei“ von Johann König auf Kupfer.²⁶ Der Maler wurde somit gleichzeitig zum Kunsthändler.
Neben den mit ihren Werken handelnden Malern traten auch professionelle Kunsthändler auf. Heute noch wegen seines hinterlassenen Briefwechsels bekannt ist der Augsburger Patrizier und Kunsthändler Philipp Haindorfer (1678-1647), der Kunden dazu brachte, Kunstwerke in Auftrag zu geben, oder der selbst Kunstwerke anfertigen ließ, um sie danach zu verkaufen. Er konnte dazu bis zu 32 Künstler aus 15 verschiedenen Zünften beschäftigen. Dies gibt einen Einblick in die potenzielle Größe solcher Unternehmen.²⁷
Die Künstler spezialisierten sich dabei auf verschiedene Bereiche, wie Beispiele aus den Nürnberger Malerbüchern des 17. Jahrhunderts zeigen. „Mahler, flache Mahler, Conterfetter, Pespectivmahler, Landschaftmahler, in fresco Mahler, Wasserfarbmahler, Miniaturmahler, gfleckelte Mahler, Schmelzwerckmahler, Casormahler, Ezmahler, Glaßmahler, Staffierer, Briefmahler, Wismahtmahler, Freihandmahler, Illuministen, Italianischlackmahler“²⁸ werden dort genannt. Dies hatte zur Folge, dass sich auch in Deutschland, ähnlich wie in Holland, Kunstzentren für Spezialisierungen herausbildeten. So florierte beispielsweise in Frankfurt am Main und Hanau die Stilllebenmalerei.²⁹
Geht man der Frage nach, wie viele Maler im 17. Jahrhundert tätig waren, so finden sich aufgrund der schwierigen Quellenlage nur selten Angaben. 1625 wurden in Nürnberg 40 Malerwerkstätten betrieben, Mitte des 17. Jahrhunderts lassen sich um die 450 Maler nachweisen. Diese mussten sich häufig mit Gelegenheitsarbeiten wie das Malen von Sonnenuhren auf Hauswänden finanzieren, um ihren Unterhalt zu verdienen.³⁰
Autorinnen: Sabine Brandenburg und Anna Noll
Endnoten
¹Vgl. GOTTHARD, Axel, Wie funktionierte das Alte Reich? Die politischen Rahmenbedingungen (18.01.2017), Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/reformation/235715/wie-funktionierte-das-alte-reich (27.04.2021)
² Vgl. GOTTHARD, Axel, Deutschlands großer Konfessionskrieg (18.01.2017), Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung, https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/reformation/235721/deutschlands-grosser-konfessionskrieg (27.04.2021)
³ Morsbach 2008, S. 45-46.
⁴ Ebd., S. 47
⁵ Ebd., S. 53
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