Die Verzückung des Hl. Paulus

Wir sehen den Hl. Paulus, dem sich eine Vision des Himmels eröffnet. Dabei erhält die Darstellung vor allem durch die Lichtentwicklung und die Farbgebung eine besondere Dynamik, welche die Betrachtenden sofort in das Gemälde hineinzieht.

Die Verzückung des Hl. Paulus

um 1627
Öl auf Leinwand, 80 x 58,5 cm
Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie

Allgemeines zum Bild:

Bei diesem auf den ersten Blick sehr dynamischen und farbenfrohen Gemälde von Johann Liss handelt es sich um “Die Verzückung des Hl. Paulus”. Das in Öl auf Leinwand gestaltete Werk wurde auf eine Entstehungszeit um 1627 datiert. Damit stammt es aus der letzten Schaffensperiode des Künstlers in Venedig.¹ 

Aber tauchen wir direkt ein in das Bild: Was sehen wir? Im Vordergrund sitzt ein älterer Mann mit Halbglatze und grauem Vollbart an einem Tisch mit aufgestapelten Büchern. Er hat wohl zuvor in einem vor ihm aufgeschlagenen Buch gelesen. Gerade beugt er sich jedoch aus seinem Lehnstuhl seitlich zu den Betrachtenden hin. Dabei ist ihm das braune Gewand von seiner linken Schulter gerutscht, sodass sein halber Oberkörper entblößt ist. 

Die linke Hand nach vorn unten gestreckt, wo weitere aufgeschlagene Bücher liegen, zeigt er mit der Rechten auf einen Engel, der auf einer Wolke von links zu ihm herabschwebt. Dieser hat uns seitlich den Rücken zugewandt und spielt auf einer Laute. Darüber eröffnet sich eine imposante und hell erleuchtete Himmelsszene mit weiteren überirdischen Wesen. Neben einem singenden Engel erhebt sich eine Kette aus drei Putten spielerisch in den Himmel. Ein weiterer Engel mit hellviolettem Rock spielt auf einer Geige, während der Vierte direkt über dem Alten einen dunkelgrünen Vorhang an den rechten Bildrand schiebt. Dabei blickt er über seine Schulter zur linken oberen Bildecke. Dort gipfelt die Szene eingerahmt von den musizierenden Engeln und leuchtenden Wolkengebilden in der Dreifaltigkeitsgruppe.²

Details

Vergleichswerke

Jeremias Falck nach Fetti, Der Traum des Hl. Petri, 1655-1677, Kupferstich, Rijksmuseum, Amsterdam

Der Liss-Forscher Rüdiger Klessmann sieht in dem Werk “Der Traum des Hl. Petrus” von Domenico Fetti ein Pendant zu dem Gemälde von Liss. Dies führt er zunächst auf das theologische Sujet der beiden Bilder zurück, da es sich bei dem Hl. Paulus und dem Hl. Petrus um die beiden bedeutendsten Apostel Jesu handelt. Außerdem haben sich die beiden Werke im 17. Jahrhundert gemeinsam in einer Sammlung befunden, wo Jeremias Falck damit beauftragt wurde, Kupferstiche von ihnen anzufertigen. Wohl infolge der kompositorischen und thematischen Verwandtschaft der beiden Werke hat er irrtümlicherweise das Gemälde Fettis ebenso Johann Liss zugeschrieben. Klessmann nimmt an, dass das Gemäldepaar ursprünglich nur bei Domenico Fetti in Auftrag gegeben wurde. Durch seinen frühen Tod 1623 hätte er jedoch nur das erste Werk zur Vision Petri vollenden können. Deshalb wäre schließlich Johann Liss damit beauftragt worden, das Gemäldepaar zu vervollständigen.

Tatsächlich befand sich die “Verzückung des Hl. Paulus” nachweislich zusammen mit dem “Traum des Hl. Petrus”, der heute leider verschollen ist, in der Amsterdamer Sammlung der Brüder Gerrit und Jan Reynst. Da Letzterer selbst seit 1625 in Venedig war, wird vermutet, dass er das Werk direkt von Johann Liss angekauft hat. Die Privatsammlung der Brüder war zu dieser Zeit die größte in der nördlichen Niederlande und zählte etwa 200 Gemälde, die Jan Reynst in Italien und vor allem in Venedig erwarb. Die Größe von Fettis Werk lässt sich, da es verloren ist, leider nicht mehr bestimmen. Andreas Tacke führt dabei an, dass sich ein Gemäldepaar durch eine ähnliche Proportionierung der Hauptprotagonisten auszeichnen würde. Betrachtet man jedoch die beiden Reproduktionsgraphiken nebeneinander, wirkt der Hl. Paulus viel kleiner als Petri. Somit unterstützt Tacke die These Kurt Steinbarts, dass es sich hier nicht um Pendantbilder gehandelt haben kann.


Johann Liss, Die Inspiration des hl. Hieronymus, 1627-1629, Öl auf Leinwand, 225 x 175cm, San Niccolo da Tolentino, Venedig

Innerhalb Liss’ Œuvre lässt sich dieses Werk gut mit der “Inspiration des Hl. Hieronymus” von 1629 vergleichen. Dort erscheint der Kirchenvater büßend in der Wüste, während ihm die Engel verkündigen. Damit ergibt sich bereits ein starker inhaltlicher Bezug zwischen den beiden Werken, der sich ebenso im Faltenwurf der Kleidung sowie der Komposition widerspiegelt.¹⁰ Klessmann schreibt: “Die dialogische Gegenüberstellung des rechts sitzenden Heiligen mit dem Engel und die Anordnung der Figuren in der Form einer S-Kurve findet man bei beiden Bildern.”¹¹

Die Blickführung ähnelt sich, da man von unten in die Bilder einsteigt, nach rechts zu den beiden Hauptprotagonisten schweift und dann in den offenen Himmel geleitet wird. Es zeigt sich auch ein enger Bezug bei der Intensivierung des Lichtes – von einem dunklen Vordergrund zu einem hellen Hintergrund – sowie bei der Farbgestaltung der beiden Bilder.¹² Ann Tzeutschler Lurie formuliert treffend: “In beiden entstehen Formen aus Farbe und Licht, die an Schwerkraft verlieren, je näher sie dem Licht des Himmels kommen.”¹³

Gerrit van Honthorst, Die Himmelfahrt des Hl. Paulus, 1616-17, Öl auf Leinwand, 400 x 250 cm, Santa Maria della Vittoria, Rom und Ludovico Cigoli, Die Steinigung des Hl. Stefano, 1597, Öl auf Holz, 450 x 287 cm, Palazzo Pitti, Florenz

In einem Werk von Gerrit van Honthorst aus der Kirche S. Maria della Vittoria mit demselben Sujet zeigt sich der Hl. Paulus inmitten verschiedener unter anderem musizierender Engelsgestalten. Johann Liss könnte dieses Motiv von dort übernommen haben, da das Gemälde 1621 entstand, kurz bevor Liss selbst nach Rom gereist war.¹⁴ Interessant ist hier, dass Honthorst den Hl. Paulus innerhalb seiner himmlischen Vision darstellt, während Johann Liss den Apostel seine Entrückung vor dem geistigen Auge erfahren lässt. Somit können die Betrachtenden von ihrem Standpunkt aus ebenso an der Himmelsvision des Hl. Paulus partizipieren.¹⁵

Ein weiteres Kunstwerk, das den Maler womöglich ebenso inspiriert haben könnte, ist “Die Steinigung des Hl. Stephanus” aus der Hand des italienischen Künstlers Ludovico Cigoli. Es wurde 1597 angefertigt und zeigt eine Dreifaltigkeitsgruppe, die sich ähnlich der “Verzückung des Hl. Paulus” im Licht des Himmels aufzulösen scheint.¹⁶

Exkurs

Die Bibelstelle

Jeremias Falck nach Liss, Die Verzückung des Hl. Paulus, 1655-1677, Kupferstich, 41,8 × 29,3 cm,  Rijksmuseum, Amsterdam

Welche Szene ist hier überhaupt dargestellt? Dazu gibt uns ein Kupferstich von Jeremias Falck Aufschluss, dessen Inschrift die Darstellung als “Verzückung des Hl. Paulus” betitelt. Es handelt sich also um eine biblische Szene aus dem Leben des Apostels Paulus, der in seinem zweiten Brief an die Korinther (12, 1-4) von sich in der dritten Person schreibt:

“Ich weiß einen Menschen in Christus, der vor vierzehn Jahren […] entrückt wurde bis in den dritten Himmel. Und ich weiß, da[ss] dieser Mensch […] in das Paradies entrückt wurde und unsagbare Worte hörte, die ein Mensch nicht aussprechen darf.”¹⁷ (2 Kor 12, 2-4)

Dabei teilt Paulus den Himmel in drei verschiedene Sphären: Die körperliche mit den Planeten, die geistige mit den Engeln und die dritte Sphäre mit Gott, in die Christus aufgestiegen ist. Somit wird der Apostel hier innerhalb einer göttlichen Vision ins Jenseits entrückt.¹⁸ Die beschriebenen “unsagbaren Worte” stellt Johann Liss mithilfe der musizierenden Engel dar, die ihr Stück dem Apostel darbieten. Dabei bleibt es den Betrachtenden leider verborgen. Was sie wohl spielen?¹⁹

Autorin: Anna Noll

Endnoten
¹ Tzeutschler Lurie 1975, S. 125f
² Steinbart 1940, S. 126f
³ Ebd. S. 127
 Ebd. S. 127
 Ebd. S. 127

¹⁵ Tacke 2020, S. 182f
¹⁶ Tzeutschler Lurie 1975, S. 125
¹⁷ Hamp u. A.
¹⁸ Tacke 2020, S. 182
¹⁹ Tzeutschler Lurie 1975, S. 125

Tzeutschler Lurie 1975, S. 127
Klessmann 1999, S. 84-86
 Im Kunsthistorischen Museum in Wien befindet sich heute eine zweite Version des “Traums des Hl. Petrus” von Domenico Fetti selbst, deren Komposition er jedoch etwas abgewandelt hat. Außerdem wurde sie im Nachhinein leider auf 66 x 51 cm beschnitten.

 Tacke 2020, S.183-187
¹⁰ Klessmann 1999, S. 84-86
¹¹ Ebd., S. 142
¹² Tzeutschler Lurie 1975, S. 127
¹³ Ebd., S. 127
¹⁴ Ebd., S. 125

Bibliographie

HAMP, Vinzenz, STENZEL, Meinrad, KÜRZINGER, Josef, Die Bibel. Die heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, Naumann und Göbel, Köln, Aschaffenburg, München, 1984.

KLESSMANN, Rüdiger, Johann Liss. Eine Monographie mit kritischem Œuvrekatalog, Davaco Publishers, Gent, 1999, S.83-94, 141-146.

STEINBART, Kurt, Johann Liss. Der Maler aus Holstein, Deutscher Verein für Kunstwissenschaft, Berlin, 1940, S.126-129.

TACKE, Andreas, Die deutschen Gemälde des 17. Jahrhunderts. Kritischer Bestandskatalog (Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie), Petersburg 2020, S.173-189.

TZEUTSCHLER LURIE, Ann, A 38, Die Verzückung des Hl. Paulus, In: KLESSMANN, Rüdiger, Ausstellung unter dem Protektorat der Präsidentin des Deutschen Bundestages Frau Annemarie Renger und des International Council of Museums (ICOM); [Augsburg, im Rathaus vom 2. August – 2. November 1975; Johann Liss Exhibition in the Cleveland Museum of Art, 17. Dezember 1975 – 7. März 1976], Augsburg: Pr.-Dr.-und Verl.-GmbH, 1975, S.125-128.